Kann eine Illustration autonom sein? ... An die Stelle einer situativen Nacherzählung tritt die Visualisierung eines subjektiven Leseerlebnisses. Die dialektische Konsequenz ist, daß von einer Illustration eines Buches nicht mehr gesprochen werden kann. An ihren Platz tritt die Illustration einer Interpretation. Akzeptiert man diese Definition, hat dies weitreichende Auswirkungen für den Leser wie den Künstler. Dem Künstler ermöglicht es, den Text eigenständig zu gewichten. Textstellen, die substantiell erscheinen, werden Anlaß intensiver Beschäftigung. Andere können vernachlässigt werden. Dadurch, daß ich die Bilder dem Text entfremde, gerate ich nicht mehr in die unmittelbare Konfrontation mit dem Leser. Die Entfremdung verweist auf den interpretierenden Charakter der Illustration. Der Illustrator vermindert dadurch die Rivalität, die zwischen seiner und der Vorstellungswelt des Lesers besteht. Das erleichtert beiden den Zugang zu einer intellektuell orientierten Auseinandersetzung. Diese gemeinsame Basis birgt einen unschätzbaren Vorteil gegenüber der Rezeption museal verwalteter Kunst. Der Künstler kann sich auf einen Rezipienten stützen, der zugleich potentieller Experte und Mitwisser seiner Ausgangsbedingung ist. Meinem kritischen Gegenüber - und er wird sehr kritisch sein, mute ich ihm eine subjektive Reflexion zu - wird es darum leichter fallen, die Auseinandersetzung auf einem gleichberechtigten Niveau zu führen. Ein Umstand, der fast schon einer idealtypischen Begegnung zwischen Künstler und Rezipienten entspricht...
aus: Fünf Bilder zum Liebeskonzil von Oskar Panizza, Diplomarbeit von Jens Hasenberg |